Ich bin nicht verrückt. Ich bin ein Mädchen!
Das Kind liebt es, sich schön anzuziehen, mit den anderen Mädchen auf der Straße zu spielen und deren Haare während langweiliger Unterrichtsstunden in kunstvolle Frisuren zu verwandeln. Es träumt davon, nach der Grundschule die Hauswirtschaftsschule zu besuchen. In der Gastwirtschaft seines Bruders genießt es schon im frühen Jugendalter die gemeinsamen Stunden mit den Servier- und Putzfrauen, die Tuscheleien, die Gespräche über weibliche Themen. All das ist nicht ungewöhnlich für ein Mädchen, das Ende der fünfziger Jahre in der konservativen ostholländischen Provinz zur Welt kommt. Es gibt nur ein Problem. Das Kind heißt Hans und ist, zumindest biologisch betrachtet, ein Junge… Nach jahrzehntelangen inneren Kämpfen, die ihn an den Rand des Selbstmordes führen, wird im Alter von über fünfzig Jahren aus Hans endlich Hanne. In ihrer Autobiografie möchte Hanne anderen Betroffenen Mut machen und nicht Betroffene über das Thema Transsexualität oder Geschlechtsidentitätsstörung, wie der medizinische Fachbegriff lautet, aufklären. Vor allem aber möchte sie sich nicht länger hinter der Mauer des Schweigens, die sie aus falscher Scham jahrzehntelang um sich errichtet hatte, verstecken müssen.
Wagenvoord, Hanne: Ich bin nicht verrückt. Ich bin ein Mädchen!
ISBN: 978-3-937772-33-2, Taschenbuch, 204 Seiten, 14,90 Euro
Schritt für Schritt lief ich den rot blinkenden Lampen des rasch näherkommenden Zuges entgegen. Näher und näher. Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubendes Pfeifsignal die Stille. Bruchteile von Sekunden, bevor ich den Sprung in meine Freiheit, meine Erlösung, machen wollte. Das Kreischen bohrte sich quer durch mein Gehirn, krachte in mich, gleichzeitig mit einem blitzenden, hellen Licht. Es war, als ob mir jemand zuschrie, mit diesem Wahnsinn aufzuhören. Reflexartig trat ich einen Schritt zurück und stolperte rückwärts über einen hoch stehenden Stein. Noch im Sog des vorbeirasenden Zuges ging ich zu Boden. Ich war geschockt und spürte aufkommende Tränen und ein heftiges Zittern durch meinen ganzen Körper. Regungslos blieb ich liegen und starrte zu dem strahlend blauen Himmel auf. Durch meine Tränen sah ich verschwommen ein paar Vögel vorüber fliegen.